ZINGST

Zingst an der Unstrut.

Zingst an der Straße der Romanik, an der Weinstraße Saale-Unstrut. Unter dem Runneberg, an welchem der Geschichte nach Thüringer gegen Franken kämpften. Zingst gegenüber dem Vogelherd, an dem der Sachse Heinrich die erste Huldigung seiner Königswürde erfuhr.  

Zugegeben; Zingst ist nicht gerade eine Metropole, eher einer dieser unendlichen Durchfahrtsorte. Ein kleiner Fleck am weiten Unstrutbogen. Aus der Geschichte ist die kleine Siedlung jedoch nicht wegzudenken. Und - um es vorweg zu nehmen - ich bin hier aufgewachsen.

Zingst ist wahrscheinlich eine der westlichsten slawischen Siedlungen - und taucht in alten Schriften als villa Cindest 1203 auf, 1206 als Zindest. Allerdings wird der Name vom germanischen tind bzw. vom mittelhochdeutschen Zint abgeleitet. Beides bedeutet so viel wie Zinke oder Spitze und bezieht sich auf die Lage des Sandsteinsporns im Rücken des Dorfes. Die Ronneberge um das Dorf werden als Begräbnisplatz genutzt und als Heiligtum angesehen. Die bei Arbeiten in der „Siedlung“ gefundenen Werkzeuge und Waffen aus der Jungsteinzeit sind im Querfurter Burgmuseum zu sehen.

Heute gehört der Ort, im Schatten des Vitzenburger Schlosses liegend, zur Verwaltungsgemeinschaft „Forst Hermannseck“. In grauer Vorzeit jedoch, als das mächtige Kloster Reinsdorf (um 1123) an der unteren Unstrut noch erhebliche Macht besitzt, ist Zingst Vorwerk des Stifts. Der Pionierleistung der Benediktinermönche ist es zu verdanken, daß das Gebiet mit seinen 7 Hufen Ackerland (eine sächsische Hufe beträgt 16,6 Hektar) und ausgedehnten Waldungen wesentlich zum Reichtum des Stifts beiträgt.

Auch die heute wüste Ansiedlung Johannesrode bei Zingst wird von den Mönchen gegründet. 1525, während der Bauernkriege, plündert ein Trupp Aufständischer das Kloster Reinsdorf und brennt dieses nieder. Die Glanzzeiten sind endgültig vorbei und mit der Säkularisierung (Übergabe in weltliche Hände) im Jahre 1540 fällt neben anderen das Gut Zingst an den damaligen Landesherrn. Die Überbleibsel des Reinsdorfer Stifts werden zum Ausbau des Vorwerkes verwendet.

Hans Petzold erwirbt 19 Jahre später das „öde und wüste Gütlein Zingst“. Die Schlachten des 30jährigen Krieges sind geschlagen, die letzten Söldnertruppen verschwunden, als am 5.Juni 1663 Joachim Christoph von der Schulenburg dem fürstlich sächsisch-Magdeburgischen Hofjägermeister George von Hornigk das Anwesen abkauft. 1665 werden die letzten Arbeiten am herrschaftlichen Wohnhaus beendet; die Räume prunkvoll ausgestattet. Mehrmals noch wechselt das Gütlein seinen Besitzer. Das Anwesen wird verlehnt, vergeben, verkauft und vererbt, bis es schließlich in die Hände des kürfürstlich sächsischen Oberforstmeisters Adolph Freiherr von Seckendorff fällt. Ein Sproß der Familie, Christian Adolph, geht mit seinen Komödien in die Literaturgeschichte ein. Und somit auch Zingst!

Im Ort werden 1825 acht Fronhäuser gebaut, die zum Vitzenburger Schloß gehören. Wenige Meter daneben wohnen die Zingster Landarbeiter.

Carl Heinrich von Helldorf, königlicher Landrat und Kammerherr, wird 1859 Herr auf dem Rittergut. Auch die von Helldorfs statten die Räume verschwenderisch aus. Zierliche, handgearbeitete Möbel, feingeschliffene Kronleuchter aus hunderten Kristallblüten und -tropfen. Seidene Vorhänge, prächtige Ölgemälde alter Maler und Ledertapete aus China. Recht angenehm und ruhig läßt es sich schon immer in Zingst leben. 

Nach dem verheerendem Brand von 1934 lassen Hans Werner Baron von Helldorf und dessen Frau Ilse, die 1944 stirbt, das zerstörte Schloß originalgetreu wieder aufbauen. Am 13.April 1945 rücken die Amerikaner in das Dorf vor. Die mit Seide bezogenen Stühle werden herausgeholt und die Soldaten genießen auf der Terrasse die ersten warmen Sonnenstrahlen - und ihre kühlen Drinks. Der Baron ist indessen schon auf dem Weg nach Westen. Er stirbt 1956 in Hamburg.

Nach dem Abkommen von Jalta im Februar 1945 fällt die Gegend im Unstrutbogen an die Sowjetunion. Den russischen Siegern gefällt das Rittergut genauso wie dessen luxuriöse Ausstattung. Nur wenige Stücke bleiben als schwacher Abglanz früherer Pracht letztendlich zurück.

Das Schloß wird nach dem Krieg als Mütterheim genutzt, danach als Fachkrankenhaus für Kinder- und Jugendpsychatrie. Heute gehört es zum Carl-Basedow-Klinikum Merseburg. Mitte der 1990er Jahre wird mit immensem finanziellen Aufwand ein Sozialtrakt an das Gebäude angebaut. Doch will dieser mit seinem klobigen Aussehen gar nicht zu dem ehemals unter Denkmalschutz stehenden Wohnhaus passen.

Nach der Fertigstellung der Carl-von-Basedow-Klinik im nahegelegenen Querfurt kommen die Gebäude unter den Hammer. Doch nicht das Konzept der altersgerechten Pflege überzeugt die Landesväter, sondern die Not der klammen Kassen und der schnellen Mark. Der Berliner Immobilienhändler Martin Kistenmacher erwirbt das Kleinod und vermietet die Räume des Schlosses für Übernachtungen.

Ein trauriges Aushängeschild stellt seit Jahren die ehemalige Gärtnerei. Das unter Denkmalschutz stehende Wohnhaus zerfällt schon seit vielen Jahren direkt neben der Straße der Romanik, die Fenster sind zerschossen und zugenagelt. Ein kleiner Irrgarten befand sich vor dem Krieg auf dem Gelände. Die zugehörige Apfelplantage zwischen Bahnschienen und Straße wurde vor Jahrzehnten gerodet.

Hermann Mundt sen., der in den 30er Jahren in Helldorf’sche Dienste tritt, läßt als erster Gärtner ein Gewächshaus anlegen. Nach dem Krieg wird die Gärtnerei in die LPG Pflanzenproduktion Querfurt eingegliedert. Das Heizhaus erlaubt die Aufzucht von Pflanzen schon über die Wintermonate. 1990 wird die Gärtnerei in die Rehabilitationsmaßnahmen des Krankenhauses übernommen. Heute stehen die rostenden Eisenskelette der Gewächshäuser zwischen wuchernden Brennessel- und Distelkolonien und auf ehemaligen Gemüsebeeten wachsen wilde Margeriten. Werbung sieht eigentlich anders aus.

In den einstigen Wirtschaftsgebäuden, die Roderich Heinrich von Helldorf bis 1876 bauen läßt, hält die LPG (T) Weißenschirmbach bis Anfang der 1990er Jahre Kühe und Schafe. Seitdem stehen die Gebäude leer. Allein außerhalb des Dorfes werden privat in dem früheren Ochsenstall einige Jahre lang Pferde gehalten. Diese weichen 2006 einem Schneckenfarmer.

Eine hohe Sandsteinmauer umschließt das Rittergut. Durch eine schwere, eisenbeschlagene Tür gelangt man in den angrenzenden Park. Tief herabhängende Zweige und zugewachsene Wege erschweren heute das Wandern. Nur noch undeutlich sind die moosbewachsenen Mauern und alten Wege am Hang zu erkennen. Über die kleine Schlucht an der Zingster Quelle führte früher eine steinerne Brücke. Eine Holzbrücke, mittlerweile durch rohe Kräfte sinnlos zerstört, ersetzt diese seit Mitte der 1990er Jahre.

Natur, Erholung & Geschichte

Rehe brechen durch das Unterholz und Dachse überwintern wenige Meter vom Wegesrand. Wildschweine und Hirsche fallen recht oft in die Gärten ein und Fuchs und Hase sagen sich „Gute Nacht“. Ruhe und Erholung findet man in Zingst immer noch. Zuviel des Guten, sind sich jedoch viele Einwohner sicher.

Auf dem Rodeland oberhalb des Ortes stand bis 1962 eine Schäferei. Wo einst Schafstall und Wohnung waren, wachsen heute wilde Holunderbüsche. In den nahen Kirschplantagen wachsen die Brennesseln in den Himmel. Vor zwei Jahren erhoben sich im Tal kurz die kritischen Stimmen zum neu eröffneten Steinbruch im Naturpark. Gesprengt wird immer noch, doch sind die Stimmen inzwischen verstummt. Die Wege allerdings sind durch die schweren Maschinen zerfahren und nicht begehbar, liegen aber glücklicherweise nicht direkt im touristischen Blickfeld. Von der Hopfenplantage zwischen Zingst und Nebra kündet dagegen heute nur noch der Pappelstreifen im Getreidefeld. Vergänglichkeit!

Mit der Bodenreform in den 50er Jahren wird Zingst größer. Die „Siedlung“ entsteht und die Einwohnerzahl verdoppelt sich schlagartig. In den 80er Jahren wohnen etwas über 100 Menschen in dem kleinen Dorf. Der Konsum dient zum Informationsaustausch. Ein Wirtshaus gibt es nicht. Die Bäckerei an der Straße wird geschlossen. Keine Kirche, kein Jugendclub oder Sportplatz. Nachdem 1991 auch der kleine Laden zumacht, trifft man sich bei den fahrenden Händlern. Der Satz „Essen auf Rädern“ bekommt eine neue Bedeutung. Brot, Tiefkühlkost und Getränke rollen bis vor die Haustür. Ein eigenes Auto wird auf dem Dorf zur Notwendigkeit.

Viele Einheimische ziehen weg und die Häuser brechen zusammen. Jahre vergehen und die Gerüchte um den Neubau weiterer Häuser in der „Siedlung“ scheinen anfangs unbegründet. Doch die Gemeinde benötigt Geld und verkauft Ackerland als Bauland. 1999 entstehen vorerst drei Eigenheime, die dem kleinen Ort ein anderes Aussehen verleihen und den Dorfkern vehement verlagern. Vergessen sind bald die bei den Bauarbeiten umgerissenen Bäume und lange Zeit ramponierten Bürgersteige. Der einstige Bauträger ging trotz großspuriger Pläne und herrischem Auftreten in die wohlverdiente Insolvenz.

Im Mittelpunkt der Geschichte - Thüringischer Niedergang & Vogelherd

Die Hälfte der eroberten Besitztümer verspricht der Thüringer Irminfried dem Frankenkönig Theuderich, falls dieser ihn im Kampf gegen den eigenen Bruder unterstütze. Der König willigt ein. Aber nach erfolgreicher Schlacht gegen den Bruder Balduin bricht König Irminfried seinen Schwur. 531 zieht Theuderich, unter seines Bruder Lothars Mithilfe, gegen den Wortbrüchigen. Die thüringischen Krieger stellen sich den anrückenden Franken bei Runibergun. Zwei Tage hallen die Schreie der Kämpfenden und Sterbenden durch die dichten Wälder. Doch können die Thüringer der Übermacht nicht standhalten und weichen am dritten Tag zurück. Kurz darauf wird Irminfrieds Heer, inzwischen kämpfen auch die Sachsen auf fränkischer Seite, endgültig geschlagen. Das Thüringer Reich ist für immer verloren. 

Einige Historiker hegen ihre Zweifel daran, daß mit dem Runibergun der bei Zingst gelegene Ronneberg gemeint ist. Doch bei der Erweiterung des Vitzenburger Schlosses 1764 werden am Berge zahllose Waffenreste und Menschengebeine gefunden, welche die Katastrophe an dieser Stelle bestätigen.

Mit Sicherheit allerdings erlangt in dieser Gegend 641 erlangt der Thüringenherzog Radulf allerdings durch seine Schlacht gegen den jungen Frankenkönig Siegbert erhebliche Autonomie. Die fränkische Oberhoheit wird nur noch formell anerkannt.

Fast 300 Jahre später, im Mai 919, befindet sich Herzog Heinrich von Sachsen auf seiner Pfalz Memleben. Während er in den Niederungen der Unstrut der Vogeljagd nachgeht, unterbrechen Abgesandte des verstorbenen Königs Konrad I. die Jagd und bieten dem Herzog auf Wunsch Konrads die deutsche Königskrone an. Das Flächennaturdenkmal „Vogelherd“ gehört zu Zeiten zu den Besitzungen des Barons von Helldorf. Auch wenn die Quedlinburger seit Jahren ihren eigenen „Finkenherd“ haben und für sich den Ort der Handlung in Anspruch nehmen, so wissen es die Menschen im Tal doch besser. Heute ist der Fleck immer wieder einen Ausflug wert. Der Sandsteinhügel bietet Schwarzkiefern und mächtigen Eichen ebenso idealen Lebensraum wie Hirschkäfern und Eichelhähern. Am Steilhang gegenüber liegt das Schloß Vitzenburg und bietet eine filmreife Kulisse. Und eng schmiegen sich unterhalb die Häuser von Zingst an den Waldstreifen. 

Zingst an der Unstrut - ein kleines Dorf in Sachsen-Anhalt; ohne Strandbad und Dünung.