CHILE - VON SANTIAGO NACH PUERTO VARAS 1 von 4
MAPUCHE UND KONQUISTATOREN, ERDBEBEN, WEINLAND UND DEUTSCHES ERBE
Santiago de Chile

Die Silhouette der Stadt mit dem noch in Bau befindlichen Gran Torre Santiago, der mit seinen 300 Metern der höchste Wolkenkratzer in Lateinamerika werden soll.

Als der spanische Konquistador Pedro de Valdivia im Februar 1541 im Namen seines Königs Karl V. aus dem Hause Habsburg „Santiago del Nuevo Extremo“ gründete, war nicht abzusehen, dass im Siedlungsgebiet einmal über fünf Millionen Menschen leben würden und somit etwa 40 Prozent aller Chilenen. Die Hauptstadt, deren Name einst an den Wallfahrtsort Santiago de Compostela erinnern sollte, liegt auf halbem Weg zwischen Kordilleren und Pazifik.

Presselandschaft

Die 1827 in Valparaíso gegründete Zeitung "El Mercurio" ist die älteste spanischsprachige Ausgabe der Welt. Die zweite dominierende Zeitschrift ist die eher linksgerichtete "La Tercera". Das deutschsprachige Wochenblatt "Cóndor" ist die drittälteste Zeitung Chiles.

Als wir in den frühen Morgenstunden die weiß glitzernde Schneekette der Kordilleren überflogen, hatte ich eine lange, unruhige Nacht hinter mir. Im Dunkel des dreizehnstündigen Nachtfluges hatten wir den Äquator überquert ohne dass ich dessen gewahr wurde. Die 1929 gegründete chilenische Fluggesellschaft LAN war in Madrid gestartet, hatte in der frühen Nacht den nördlichen Wendekreis und gegen Mitternacht den Äquator überflogen. Die chilenische Hauptstadt schien sich im Morgendunst an die Kordilleren zu drücken. Bei näherer Betrachtung allerdings wuchs sie sich zu einem weitläufigen, von breiten Autostraßen und schmalen Wegen und Gassen durchzogenen 640 Quadratkilometern großem Schachbrett aus. Von hier sind es 12.517 Kilometer bis Berlin, 7.890 Kilometer bis Memphis, Tennessee und die Antarktis ist näher als Moskau.

Die 4.300 chilenischen Kilometer zwischen heißer Atacama und dem sturmzerfurchten Feuerland bilden das südamerikanische Rückgrat, eingekeilt zwischen den mächtigen, schneebedeckten Anden und Pazifischem Ozean. Für Argentiner und Brasilinaner ist es das Land hinter den Bergen, ständigen Wetterphänomenen und Erdbeben ausgesetzt, dessen nördliche Hälfte erst während der spanischen Kolonialzeit geboren scheint, während sich der Süden gegen die vermeintliche Zivilisation stemmte und das bereits früh als „Preußen Südamerikas“ galt. Aber vermutlich lag das auch an den deutschen Einwanderern, die in Preußen keine Zukunft in der Zivilisation fanden. Die südamerikanische Verheißung lockte in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts zahlreiche Pioniere und Abenteurer an. Chile stand vor allem für deutsche Siedler hoch im Kurs, welche, mit Wohlwollen der Regierung, das Land im kleinen Süden urbar machen und die renitenten Indianer verdrängen sollten.

Ich war bereits seit Jahren neugierig auf dieses Land, welches in meinen frühen Schuljahren stark durch die Diktatur Pinochets geprägt war. Mit dem Wahlsieg von Salvador Allende Gossens 1970 rückte Chile mit seinem nun folgenden sozialistischen Experiment bekanntermaßen näher an den Ostblock  heran. Auch die DDR, nun als eigenständiger deutscher Staat durch Chile anerkannt, forcierte umgehend den politischen und wirtschaftlichen Schulterschluss. Nach dem Putsch von General Augusto Pinochet Ugarte wurde Tausende Chilenen verhaftet und ermordet. Tausenden Chilenen bot die DDR Asyl, Wohnung und Arbeit und Freiheiten die sie nicht einmal der eigenen Bevölkerung zugestand. Diese Solidarität wiederum sollte Anfang der 1990er Jahren dazu führen, dass Erich und Margot Honecker in Chile Unterkunft fanden. Das deutsch-chilenische Verhältnis scheint besonders.

Für meine chilenischen Entdeckungen hatte ich mich der Einfachheit halber einer kleinen Reisegruppe angeschlossen. Unsere Route war ebenso klassisch wie sie nur einzelne Momentaufnahmen des Landes abbilden konnte. Und klassischerweise begann unser Trip in Santiago de Chile. Es war Sonntag und die hauptstädtische Rastlosigkeit hatte einer entspannten Ruhe Platz gemacht.

Unser Hotel lag zentral einige Straßen vom Cerro Santa Lucía entfernt, wo de Valdivia Santiago gründete. Heute ist der Hügel, der für die Mapuche „Huelén“ – Schwermut – bedeutete, Nationalmonument und beliebter Park. Gegenüber den verglasten Neubauten war die altehrwürdige „Iglesia de San Francisco“ an der Alameda in sich gesunken. Doch die ursprüngliche Franziskanereinsiedelei hatte seit ihrer Gründung 1553 schon einiges erleben müssen; fiel sie bereits 30 Jahre später einem Erdbeben zum Opfer. In ihrer jetzigen Form wurde sie geweiht, als in Europa der Dreißigjährige Krieg begann. Im Innenraum waren noch die Spuren des letzten Erdbebens vom 27.Februar 2010 zu sehen. Allgegenwärtig waren die beschmierten Wände und Fassaden, vor denen sich selbst San Francisco nicht schützen konnte. Nur äußerst selten waren die Krakeleien zumindest von kunstvollen Graffitis unterbrochen. Hinter der Kirche begann die Barrio Paris-Londres. In der Calle Londres Nr. 38, der ehemaligen Zentrale der Sozialistischen Partei Chiles, ließ die chilenische Geheimpolizei Pinochets DINA in den frühen Jahren der Diktatur hunderte Gegner verschwinden. Heute erinnern zahlreiche chilenische Stolpersteine auf dem Bürgersteig an die Opfer der als „Yucatan“ bekannt gewordenen Einrichtung.  Über die Nueva York ging es an der Börse vorbei und hinüber zum Placa de la Constitutión, wo streunende Hunde entspannt in der Nachmittagssonne dösten und ein amerikanisches Filmteam vor dem Gebäude der Moneda drehte.

Wir fuhren hinauf zum Cerro San Cristobal, dem Hausberg Santiagos, auf dessen Gipfel eine vierzehn Meter hohe Marienstatue strahlendweiß im Sonnenlicht glänzte. Zahllose Familien, Gruppen und Liebespärchen nutzen den freien Tag und die letzten Sonnenstrahlen. Die Millionenstadt streckte sich unter uns kilometerweit im Dunst und erinnerte mich an SimCity. Im Osten streckten die Glasfassaden des Bankenviertels Sanhattan vor den schneebedeckten Gipfeln der Kordilleren ihre Finger in die frühlingshafte Wärme und hinter dem Rio Mapocho, im Stadtteil La Reina, lag das Exil der vielfach geschmähten Hallenserin Margot Honecker.

Durch die elegante, 1872 eröffnete Markthalle Mercado Central mit ihrer luftigen Eisenkonstruktion, vorbei an  Artischocken- und Apfelsinenbergen, Kokosnüssen und Papayas, fest verschnürten Krabben und Krebsen liefen wir in den Abend hinein und zur Plaza de Armas hinüber. Der alte Appellplatz, die Seele Santiagos, offenbart auch die Kontraste des Landes. Die Häuser der Gründerzeit und die Kathedrale aus dem 18.Jahrhundert hier auf der einen Seite, direkt daneben die verglasten Börsengebäude. Davor die Straßenhändler und –musiker, die Gastarbeiter und Einwanderer aus Peru und Bolivien, Läden mit billigem Ramsch und die Edelboutiquen in den Seitenstraßen. Als Pedro de Valdivia die Siedlung Santiago gründete, sah er sich bald mit dem Widerstand der Indianer konfrontiert. Die blutigen Auseinandersetzungen sollten sich über Jahre hinziehen, die Cuadra an der Nordseite der Plaza de Armas wurde zur Fliehburg ausgebaut und die spanische Kolonisierung am Rio Mapocho schien dem Ende nahe. Erst im Dezember 1543 wendete sich das Blatt und mit dem Genuesen Juan Bautista Pastene begannen die systematischen Expeditionen zur Kolonisierung des Landes.

Auffällig waren indes die zahllosen, sich wild knutschenden Pärchen, von denen es mehr gab als Bänke in den öffentlichen Parks und die stets herumstreunenden Hunde. Leider blieben mir einige Highlights, von denen ich gelesen hatte verwehrt: Cafés, in denen Frauen in sehr knappen Röcken bedienen und daher „Cafés mit Beinen“ heißen, Cafés in denen ausschließlich Frauen in Dessous bedienen und die in der „Glücklichen Minute“ ihren Oberkörper entblößen. Ich las im El Mercurio, der größten Tageszeitung Chiles, nichts über das Dritte Reich und blieb auch von den Strumpfverkäufern in den chilenischen Bussen verschont.

Meine chilenische Woche begann allerdings mit einer äußerst erfreulichen Weinverkostung. Das 1986 gegründete Weingut Emiliana lag auf halbem Weg nach Valparaiso im Maipo Tal. Das Gebiet am Rio Maipo  ist bekannt für seine ausgezeichneten Weine und viele halten es für das beste Anbaugebiet Chiles. Das Klima ist hier im Schatten der Anden stabil und sorgt für ausdrucksstarke und feine Weine. Emiliana hatte seinen Schwerpunkt auf ökologischen Anbau gelegt und war eines der Aushängeschilder chilenischer Weine, deren Qualitäten in den letzten Jahren Weinkenner immer mehr überzeugt hatten. Einige Arbeiter schnippelten im Gras herum, etliche Hühner scharrten im Dreck und ein Guide betonte ständig die Nachhaltigkeit der Anlage, während er mit uns zu den eingezäunten Lamas hinüberlief, die ebenso ihren Beitrag zum Bioanbau liefern mussten wie Bienenstöcke und Windräder. Der grüne Daumen war nicht nur ein deutscher Exportartikel und die Qualität des Weines war überzeugend, auch wenn die Flasche, die ich um den halben Erdball mit nach Deutschland nahm und Weihnachten öffnete, nach Kork schmecken sollte.

Die Hafenstadt Valparaiso, Sitz des chilenischen Kongresses, entdeckten wir mit Sieben-Meilen-Stiefeln. Das alte Fischerdorf hatte in seinen Gründerjahren unter den zahlreichen Piratenangriffen zu leiden, Francis Drake überfiel auf seiner Weltumsegelung im Dezember 1578 die Stadt und erst mit dem Freihandel im 19.Jahrhundert ging es mit der wilden Häuseransammlung auf den steil zum Meer abfallenden Hügeln bergauf. Valparaiso war der erste größere Hafen, den Schiffe nach der Umfahrung von Kap Horn erreichen konnten und neben San Franzisco der bedeutendste an der Westküste Amerikas. Den Erdbeben, Tsunamis und wirtschaftlichem Niedergang mit der Eröffnung des Panama-Kanals zum Trotz gilt die quirlige Hafenstadt als kulturelle Hauptstadt Chiles und die Innenstadt ist Welterbe der UNESCO. Die Graffitis und streuenden Hunde indes schienen neben der geteilten Politik die direkte Verbindung zwischen Santiago und Valparaiso zu sein. Allerdings war in den meisten der Pazifikgraffitis der künstlerische Anspruch abzulesen. Einige, nicht ganz heruntergekommen wirkende, Streuner dösten in der Montäglichen Mittagssonne vor sich hin, einige Bauarbeiter legten neue Mauern und Rondelle an und ein paar Straßen weiter beseitigten Stadtreiniger in mühevoller Handarbeit die bunten Graffitis von den Wänden. Die elektrischen Stromleitungen waren ebenso abenteuerlich verlegt wie die ganze Stadt, die sich einem herzhaft buntem Flickenteppich gleich mit ihren engen Gassen, Kränzen hölzerner Villenkonstruktionen und vor sich hin rostenden Wellblechfassaden steil über die Hügel dahinzog.

Unser verspätetes Mittagessen nahmen wir in einem der viel beworbenen Traditionslokale ein, in welchem das Mobiliar von Flohmärkten liebevoll zusammengesammelt schien. Die Kellner, zumeist ältere Herren mit offensichtlich herzhaften Schrullen, servierten mit guten Manieren ensalada chilena und Seeaal mit Püree. Wir genossen das Essen, den Ausblick hinunter auf Stadt und Pazifik und liefen später über die Conceptión hinunter zur Esmeralda, über den Plaza de Sotomayor und weiter zum Hafen, wo wir einen der vielen Fischkutter bestiegen um die Hügel der Stadt vom Meer aus zu zählen. Doch mit der „Elektrischen“ Straßenbahn fuhren wir ebenso wenig wie mit der einhundertjährigen Standseilbahn die zum Wahrzeichen von Valparaíso geworden waren.

Iglesia San Francisco

Gegenüber den verglasten Neubauten war die altehrwürdige „Iglesia de San Francisco“ an der Alameda in sich gesunken.

Mercardo Central

In der eleganten, 1872 eröffneten Markthalle, kann man nicht nur frische Ware kaufen sondern in den inneren Lokalen auch am frischesten geniessen.

Weingut Emiliana

Das Gebiet am Rio Maipo  ist bekannt für seine ausgezeichneten Weine und viele halten es für das beste Anbaugebiet Chiles.

Graffiti in Valparaiso

Die Graffitis scheinen neben der geteilten Politik die direkte Verbindung zwischen Santiago und Valparaiso zu sein. Allerdings war in den meisten der Pazifikgraffitis der künstlerische Anspruch abzulesen.