MEMPHIS - CHICAGO 2 von 2
KRISENWOCHEN ZWISCHEN TENNESSEE UND LAKE MICHIGAN
Stinkende Zwiebel

In frühen Jahren wurde der Flecken von den Potawatomi-Indianern She-caw-gu bezeichnet - stinkende Zwiebel, als Hinweis, dass hier einst wilder Knoblauch wuchs. Heute ist die Stadt am Michigansee Angelpunkt der modernen amerikanischen Wirtschaft. 1837 lebten hier am sumpfigen Flussufer 4.000 Menschen. 30 Jahre später, zur Zeit des großen Brandes, bereits 300.000. Die Entwicklung Chicagos wurde durch gewaltige Bauvorhaben, Tunnel, Brücken und Abwassersysteme geprägt; ging einher mit der Zuwanderung irischer und deutscher Familien. Die Metropole stand für Schlachthöfe und Stahlwerke, schlechte Abwasserversorgung und entsetzliche Arbeitsbedingungen. Doch die Weltstadt, begründet durch die World's Columbian Exposition, streifte ihr altes Image ab und in den Zeiten der 1920er Prohibition das der Gangsterstadt über.

Der mit 442 Metern hohe Sears Tower (h.l.) war nach seiner Fertigstellung 1974 das höchste Gebäude der Welt. Im Sommer 2009 wurde das Gebäude in Willis Tower, nach dem Londoner Versicherungskonzern Willis Group Holding umbenannt.

America Under Attack

In den kommenden Tagen beherrschte fast nur noch ein Thema die Schlagzeilen. Sonderausgaben meldeten Umstände, Hintergründe und fassten die Ereignisse um den 11.September zusammen.

Irgendwas stimmte hier nicht. Doch wen sollte ich fragen? Was sollte ich fragen? „Entschuldigen Sie, sind in Amerika alle Amerikaner komisch? Ich bin erst gestern angekommen und das ist hier mein erstes Mal. Eigentlich bin ich im Sozialismus aufgewachsen und nun im freien Kapitalismus angekommen. Habe ich etwas verpasst? Plant der Präsident der größten Wirtschaftsmacht der Welt, in den Krieg zu ziehen? Kennen Sie den Irak, Afghanistan und Osama Bin Laden? Auch die neuesten Verschwörungstheorien?“ Ich entschied mich, meine Tour abzubrechen und zu telefonieren. Mit dem Bus fuhr ich aus dem Anwesen auf die andere Straßenseite. Doch die Telefonleitungen ins Ausland waren blockiert. Ich wählte die Nummer, die mir Christian vor zwei Tagen gegeben hatte. Chicago, Illinois 312. Christian arbeitete seit einem Jahr am Lake Michigan und war ein Freund aus Studienzeiten. „Die zwei Türme des World Trade Centers in New York wären einem Angriff zum Opfer gefallen, zehntausende Tode die Folge und der Krieg stünde unmittelbar bevor.“, waren seine knappen Worte auf meine Frage, ob vielleicht etwas passiert wäre; ich hätte irgendein ungutes Gefühl. Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen. „Komm‘ einfach nach Chicago rauf“, schlug Christian vor. „Hier kannst Du erst mal bleiben, bis Klarheit in die Sache gekommen ist. Derzeit weiß niemand etwas. Alle Flüge sind storniert und der Luftraum abgeriegelt.“ „Gut dann buche ich so schnelle es geht ein Greyhound Ticket und melde mich wie schnell ich in Illinois sein kann.“ Mir blieb die Luft weg.

Ich legte auf, überlegt kurz und suchte mir ein Motel in der Nähe. „America Under Attack“. ABC, Fox, CNN, selbst auf Discovery Channel kamen Sondermeldungen über die Anschläge, die nach heutigen Kenntnissen dreitausend Menschen das Leben direkt kosteten, als „historische Zäsur mit weltweiten Folgen“ gelten und Ursache meiner Verhaftung waren.

Mit einem Linienbus fuhr ich nach Downtown Memphis. In der 203 Union Avenue lag der Bus Stop. Ein kleines unscheinbares Gebäude, aber immerhin klimatisiert. Der nächste Greyhound nach Chicago würde erst in 24 Stunden gehen, bescheinigte mir die gestresst wirkende Dame hinter dem Schalter. So würde ich noch etwas Zeit am Mississippi verbringen können. Ich kaufte das Busticket, am Tresen nebenan eine Limonade und trat wieder hinaus in den schwülen Herbsttag. Die spürbare Nervosität, welche die Anschläge ausgelöst hatte, zeigte sich mir auch in der Hernando Street. Das Peabody Hotel war von der Polizei geräumt worden. Personal und Gäste standen außerhalb und warteten, dass wieder Bombenentwarnung gegeben wurde. Memphis war doch Provinz. Ich folgte den Straßenbahnschienen zum Civic Centre Plaza. Im Norden lag die Memphis Pyramide, die damals noch für Großveranstaltungen diente, aber in jenen Tagen wie so viele andere öffentliche Gebäude, geschlossen blieb. Der Mississippi funkelte mir im schnell schwindenden Tageslicht entgegen. Ol‘ Man River – was für ein Tag. Träge floss der alte Mann dahin. Die mächtige Hernando Desoto Brücke spannte sich über seine braunen Fluten, das eine Bein in Tennessee, das andere in Arkansas. Ich stand sinnend oberhalb und verfolgte, wie die Sonne in Arkansas unterging. Als ich hinter mir Schritte vernahm, drehte ich kurz meinen Kopf, erkannte zwei Polizisten, die vom Memphis City Council auf mich zukamen. „Nicht schon wieder!“, fuhr es mir durch den Kopf. „War mein Fahndungsfoto schon verteilt?“ Nicht das ich üblicherweise unter Paranoia leiden würde. Aber die Zustände waren alles andere als normal. „Tolle Aussicht“, nickte mir einer der Polizisten zu. Ich entspannte mich. Mein glorreiches Manöver vom Vormittag schien mich doch nicht in die gleiche Riege wie Sundance Kid gehoben zu haben. „Yep“, nickte ich den beiden ebenfalls zu. „Was für ein Tag.“ Mein Dialekt schien mich zu verraten. Wir kamen kurz ins Gespräch, wobei ich es tunlichst vermied, von meinem Abenteuer zu erzählen. Die Amerikaner schienen doch ganz locker zu sein. Nach dem freundlichen Hinweis des Sheriffs, dass die Gegend hier in Downtown, dem Zentrum von Memphis, nicht sicher sei, entschied ich mich, ein Taxi zu nehmen und fuhr zum Motel zurück.

Den nächsten Tag sah ich mir noch etwas von Memphis an. Am Vormittag Mud Island mit seiner „Memphis Belle“ und stampfte von dort zum Orpheum Theatre. Ich bestellte mir in „Elvis Presley’s Memphis“, einem Diner an der Beale Street etwas zu Essen - die Serviette behielt ich noch einige Jahre als Erinnerung an jene denkwürdigen Tage - und schlenderte dann die Beale Street hinunter. Am Tag lag die Bluesmeile wie ausgestorben da. William Christopher Handy’s „Beale Street Blues“ von 1916 hatte hier seinen Ursprung. Louis Armstrong, Muddy Waters Memphis Minnie, B.B. King spielten hier bis in die 1940er Jahre und halfen, den Memphis Blues zu entwickeln. Zurück im "Peabody" startete pünktlich um 14:00 Uhr die traditionelle „Entenparade“ des Hotels. Die berühmte Entenfamilie kam mit dem Fahrstuhl in die Lobby, watschelte über einen roten Teppich, ließ sich amüsiert fotografieren und nahm ein erfrischendes Bad im Springbrunnen. Manche Dinge ändern sich glücklicherweise nie. Über die wenig befahrene Union Avenue erreichte ich die Sun Studios. Sam Phillips hatte 1952 das Label gegründet und Künstlern wie B. B. King, Howlin’ Wolf, Roy Orbison und Billy Lee Riley den Weg geöffnet. Seine größte Entdeckung sollte jedoch Elvis Presley bleiben. Zusammen mit den ebenfalls bei Sun Records unter Vertrag stehenden Jerry Lee Lewis, Carl Perkins und Johnny Cash gingen die vier Künstler als das „Million Dollar Quartett“ in die Musikgeschichte ein.

Der Greyhound Bus startete pünktlich 19:00 Uhr. Zehn Stunden später sollte ich in Chicago, 630 W Harrison Street, ankommen. Christian würde mich abholen und ich die nächsten Tage in Chicago alles weitere abwarten. Im Bus selber waren nur einige Weiße. Die meisten Reisenden waren Schwarze. Mit Greyhound reisen bedeutet mit wenig betuchten Menschen zu reisen, mit Trampern, Arbeitslosen. Ich fand einen Platz neben Wayne Kevin Barnes aus Wisconsin. Obwohl mir ständig die Augen zufallen wollten, unterhielt ich mich mit dem Amerikaner die halbe Nacht. Die Ereignisse der letzten Tage, die ungewisse und sicher auch beängstigende  Zukunft, in die wir nun starten würden, bildeten genügend Gesprächsgrundlage. Wayne war für mich ein Phänomen. Aufgeschlossen und wissbegierig, passte er so gar nicht in das Schema des beratungsresistenten „All-American“. Für ihn hatten die Ereignisse einen großen Hollywood Hintergrund. „Alles was uns gezeigt und erklärt wird, ist Hollywood. Wir werden für dumm verkauft.“ Als er hörte, dass ich hinter dem „Eisernen Vorhang“ aufgewachsen war, bei Elvis in Graceland war und  die Lieder des Folksängers Woody Guthrie kannte, hörten die Fragen nicht mehr auf. Erst kurz nach Mitternacht fand ich auf dem engen Sitzplatz etwas Schlaf.

Als der Bus Chicago/ Joliet erreichte, begann es bereits zu dämmern. Übermüdet verabschiedete ich mich von Wayne und wartete auf Christian. Er holte mich mit Beatrix ab, die für einige Wochen nach Chicago gekommen war. Die nächsten Tage sind heute schnell erzählt. Während Christian arbeiten ging, machten Beatrix und ich Chicago unsicher und waren auf Sightseeing. Die amerikanische Regierung hatte den Luftraum zwischen Atlantik und Pazifik für eine Woche geschlossen. Ich buchte meinen Rückflug auf Chicago um und verließ die USA anderthalb Wochen nach meiner Ankunft am Michigansee mit der ersten Möglichkeit vom O’Hare Flughafen.

In den darauffolgenden Tagen erklärten die Vereinigten Staaten von Amerika dem internationalen Terrorismus den Krieg, rüsteten sich für den Einmarsch in Afghanistan und inhaftierten die ersten Terroristen und Verdächtige.

Greyhound

Greyhound Lines wurden 1914 von Carl Wickmann gegründet und ist heute das größte Fernbusunternehmen Nordamerikas. Greyhound Bus Lines in 630 West Harrison Street, Chicago Illinois.

600 North Clark Street

Die "Windy-City" hat seit den frühen als Handelsposten, über die Stadtgründung 1833, den Jazz- und Gangsterjahren bis heuten einen rasanten Wandel hingelegt.

Marshall Field's State Street

Der 1834 geborene Unternehmer gründete die Kaufhauskette Marshall Field and Company. Heute ist die Uhr an der Ecke North State Street und E.Randolph Street beliebter Treffpunkt.