SKANDINAVIEN
STOCKHOLM IM STAU, POLARKREIS UND WEIHNACHTSMANN, STURM AM NORDKAPP
Nordkapp 71°10N, 25°470E

Der nördlichste, heute auf allgemeine Reiseart zu erreichende Punkt Europas ist im Grunde genommen ein unwirtlicher Felsen und noch nicht einmal der nördlichste Punkt Europas. Von hier sind es jedoch nur noch 2.100 Kilometer bis zum Nordpol.

Erstmals wurde der Felsen 1553 von dem englischen Schiff Edward Bonaventura unter Kapitän Richard Chancellor gesichtet, der auf der Suche nach einer Nordwestpassage nach China war.

Felsritzungen von Tanum

Die aus der Bronzezeit stammenden Felszeichnungen gehören heute zum Weltkulturerbe. Die Vielzahl der Jagdszenen, Frauen, Männer und Schiffe sowie ihre detaillierte Darstellung, u.a. ein Brautpaar oder Männer mit Streitäxten, fasziniert heute mehr denn je. Besonders nach dem Fund der Himmelsscheibe von Nebra 2000 rückten die alten Ritzungen in den mitteleuropäischen Blickpunkt.

"Ein eigentümliches, röchelndes Grunzen weckte mich aus dem Schlafe. Oder war es nur das Schnarchen eines meiner Schlafgefährten oder einer meiner Schlafgefährtinnen gewesen? Es herrschte in der hermetisch verschlossenen Winterhütte eine Atmosphäre, welche ganz zum Verzweifeln war. In dem engen Raume hatten acht Menschen und fünf Hunde Platz gefunden, aber fragt mich nur nicht, wie! Diese dreizehn Geschöpfe staken mit ihren zweiundfünfzig Vorder- und Hinderbeinen so neben-, über-, unter- und durcheinander, daß die Entschlingung so zahlreicher und verworrener Gliedmaßen eine absolute Unmöglichkeit zu sein schien. In der Mitte der aus Rentierfellen erbauten Zelthütte kohlten die Überreste eines riesigen Feuers, dessen stechender Rauch eine einzige, undurchdringliche Wolke bildete, da die Abzugsöffnung zugedeckt worden war. Ich lag mit dem Kopfe auf der fischthranduftenden Hüfte der guten Mutter Snjära, welcher Name zu deutsch »Maus« bedeutet; mein rechtes Bein stak unter dem Leibe des alten Onkel Sätte, welches Wort mit »Pfeil« übersetzt werden muß, und mein linker Fuß diente einem der Hunde als Kopfkissen. Vater Pent, d. i. Benedikt, der Gesegnete, hatte sich meinen Pelzrock aufgeknöpft, um sein teures Haupt auf die Gegend meines Magens zu betten, so daß der Schwanz des Hundes, welchem er selbst als Matratze diente, mir lieblich krabbelnd um die Nase strich. Zu diesen unschätzbaren Bequemlichkeiten kam die Hitze, welche sich innerhalb meiner luftdichten Fell- und Pelzbekleidung entwickelte, und der aromatisch-diabolische Duft einer dreizehnfachen Trans- und Respiration nebst der Lebhaftigkeit jener kleinen, ritterlichen Geschöpfe, welche in solcher Hundenähe unvermeidlich sind, und von denen der alte, lustige Fischart gesungen hat: »Mich beizt neizwaz, waz mag daz gseyn?« Zieht man dazu in Betracht alle diatonischen und chromatischen Herzensergießungen, deren schnarchendes Fortissimo das Zelt erfüllte, so wird man es nicht unbegreiflich finden, daß ich mich für einen Augenblick dem weichen Arm des Schlafs entwand.“ (Karl May, „Auf Fremden Pfaden“)

Seit den Tagen von Erich dem Wikinger, Thor und Loki hatte Abba die Popmusik umgewälzt und die nordischen Lande waren trotz der Mythen um Grendel und Fafnir nicht mehr ganz so furchteinflößend wie in frühen Jahrhunderten. Uns lockten die weiten Ebenen Ostschwedens, die einsamen Straßen Lapplands und mächtigen Fjorde Norwegens, Rentiere, Elche und Hoffnung auf einige gutmütige Mumintrolle.

Wir packten genügend Vorräte ein; einige Büchsen Wurst, zwei Thüringer Bratwürste, vier Gläser Gurken, Käse, Brot und Zwieback, einige Fischbüchsen, Äpfel und Birnen. Dem Hinweis unseres finnischen Studienfreundes Seppo folgend, sollten einige Knoblauchzehen gegen die gierigen Mückenschwärme Skandinaviens helfen. Dazu kamen einige Tütensuppen, Zucker, Tee und Instantkaffee. Da die Preise für Getränke, im speziellen mit alkoholischem Inhalt, in Skandinavien bekannterweise teuer sind, deckten wir uns auch mit einem notwendigen Anteil an böhmischen Bier für den Eigenbedarf ein. Ein kleiner Grill, Wassertank, Zelt und Schlafsäcke komplettierten unsere Ausrüstung. Wir hatten unsere Reiseroute sorgfältig geplant und das Nordkap mit einem fetten Kreuz markiert.

In Sassnitz schifften wir uns nach Trelleborg ein und fuhren auf der alten, 1897 gegründeten Postdampflinie, hinüber ins königliche Schweden. Trelleborg empfing uns am frühen Morgen mit herrlichem Sonnenschein. Die Gegend an Schwedens südlichem Zipfel ist recht lieblich, leicht hügelig und von intensiver Landwirtschaft geprägt. Wir fuhren an der Küste nach Ystad und Sölvesborg und weiter vorbei an Karlskrona, Torsas, Mönsteras und Oskarshamn und hatten uns spätestens in Gamlebyviken an den Klang der schwedischen Namen gewöhnt. Später näherten wir uns Stockholm mit heftigen Regenschauern, steckten aufgrund überfluteter Straßen stundenlang im Stau fest und hatten gar keine Lust mehr auf die aus zahlreichen Inseln bestehende Königsresidenz. Hinter Uppsala, der traditionsreichen Studentenstadt am Fluss Fyrisan schlugen wir unser Zelt auf. Wir schlugen einige Eier in die Pfanne und genossen den lauwarmen Sommerabend ungezwungen und artfremd mit einem erfrischenden Bier.

Wir folgten der Europastraße 4 immer nordwärts, kamen an solchen lieblichen Orten wie Söderhamn, Hudiksvall und Härnösand vorbei, querten mächtige Flussdeltas und unzählige Bäche, die in den Finnischen Meerbusen strömten und schlugen unser Zelt meistens am Wegesrand auf. Im schwedischen „Allemannsrätt“ (zu deutsch „Jedermannsrecht“), ist das Recht auf freie Bewegung im Land garantiert, also auch das Recht darauf, eine Nacht in freier Natur zu verbringen. Das wilde Campen befolgten wir prinzipientreu nach dem Grundsatz “Don’t disturb – don’t destroy”. Wir fanden herrliche Plätze hinter Feldscheunen, an stillen Seen und garantiert voll bissiger Mücken.

Die E4 endete im finnischen Tornio, so dass wir der E75 in Richtung Rovaniemi folgten. Die Landschaft hatte sich stark verändert. Die zahllosen Flussläufe und Seen dominerten wie die endlosen scheinenden Fichtenwälder das Bild. Die Straße führte, von einigen weiten Kurven und sanften Hügeln abgesehen, fast endlos geradeaus.

Wir passierten den  nördlichen Polarkreis in Rovaniemi. Der Weihnachtsmann war auf Urlaub und für Autorgrammwünsche nicht zu erreichen. Doch lag das ganze Dorf einsam und verlassen in der warmen Abendsonne. Von hektischer Weihnachtsvorbereitung war nicht das Geringste zu spüren. Ein Wegweiser zeigte unter anderen 6.326 Kilometer bis New York und 1.846 Kilometer bis Dresden an. Doch vom Nordkap trennten uns nur noch etwas mehr als 500 Kilometer Luftlinie. Wir fanden den kleinen Friedhof, der mit einem Denkmal an die finnischen Soldaten erinnerte, die an der Seite Hitlerdeutschlands im Zweiten Weltkrieg gegen die Sowjetunion gefallen waren. Zum ersten Mal überquerten einige Rentiere die Straße und sollten die folgenden tausend Kilometer unsere ständigen Wegbegleiter bleiben. Wir zelteten weiterhin unter dem endlosen finnischen Himmel zwischen dichten Fichten und neben feuchten Mooren und nur von tausenden gierigen Finnmücken umschwärmt.

Weil mir unser Studienkollege den Floh ins Ohr gesetzt hatte, dass er im Inarisee gebaden hätte, ließ ich mich zu einem Bad hinreißen. Das Wasser war glasklar und runde, mächtige Steine lagen gemütlich unter der silbernen Oberfläche. Schneidende Kälte ließ mich nur einige Meter auf den See hinausschwimmen. Das Wasser des Inarisees war zu kalt, um erfrischend zu wirken. Doch die wärmenden Sonnenstrahlen belohnten meinen waghalsigen Selbstversuch. Später erfuhr ich von Holger, dass sie lediglich Wasser zum Waschen aus dem See genutzt hatten. „Always look on the bright side of life“, schoss es mir durch den Kopf.

Erst einige Jahre später sollte ich wieder in diese Gegend kommen und die Finnmark im klirrenden Februar 2004 kennenlernen. Ich war damals dienstlich unterwegs und testete einige automobile Erlkönige. Der Winterzauber hielt in jenen Tagen farbenprächtige Polarlichter und eisige Kälte parat. Wir übernachteten in kleinen, urigen Blockhütten, die jeweils mit einer finnischen Sauna ausgestattet waren. Ich fing mir eine schlimme Erkältung ein, musste auf den spannenden Ausflug mit einem Schneemobil verzichten und flog mit hohem Fieber nach Deutschland zurück.

243 Kilometer waren es nur noch bis ins russische Murmansk, etwa die Hälfte bis zur russischen Grenze, die wenige Jahre zuvor noch als „Eiserner Vorhang“ die Welt in Ost und West, Kommunismus und Kapitalismus, Gut und Böse unterteilt hatte. Wir bogen einige Kilometer hinter Inari nach Westen ab und überquerten bei Karigasniemi den Grenzfluss Inarijoki nach Norwegen. Ein Albinorentier graste mit zwei Artgenossen auf einer weitläufigen Sandbank im Fluss und einige Lappen boten in Zelten Rentiergeweihe, Felle und allerlei Nippes an. Lappland, das Land der Samen und Rentiere, erinnerte mich wieder an die „fremden Pfade“ Karl Mays und seine Abenteuererzählungen in Europas Norden.

Die Straße folgte inzwischen ihrem eigenen System von Tunneln, Windungen und Einsamkeit. Südlich von Karasjok passierten wir den Tenojoki, der auf 256 Kilometern den Grenzfluss zwischen Norwegen und Finnland bildet und stießen auf die Europastraße E6, die uns dem Nordkap naher bringen sollte. Der Baumwuchs wurde immer spärlicher und die Berge immer höher. Riesige Steinpilze ragten aus dem moosbedeckten Boden hervor und sorgten neben zahllosen Heidelbeerbüschen in der norwegischen Landschaft für eine abwechslungsreiche Mahlzeit.

Lakselv war die letzte größere Ortschaft die wir passierten, danach kamen nur noch kleine zusammengewürfelte Häuser, die sich einen gemeinsamen Namen gesucht hatten, wie Ikkaldas, Skoger oder Tvernes. In Olderfjord führte die E69 nur noch nach Norden zum nördlichsten Punkt Europas und hinter Smorfjord führte die Straße hart am Porsangerfjord entlang, der sich direkt in die Barentssee hineinschob. Wir setzten mit der Fähre nach Honningsvag über und erreichten das Nordkap über die hier wildromantische, baumlose E69. Das Nordkap empfing uns mit offenen stürmischen Armen. Vor uns lag der endlos scheinende Horizont des Eismeers, die Nordkaphalle mit dem Informationszentrum und die Scheiben des „Kinder-der-Welt“-Denkmals. Der italienische Priester soll 1664 als erster Tourist am Nordkap gewesen sein. 1875 machte das Reisebüro Thomas Cook den Vorreiter und organisierte die ersten Gruppenreisen hoch in den Norden. Wir warteten in Honningsvag im einsetzenden Regen auf die Fähre. Erst König Harald sollte  am 15. Juni 1999 den Nordkaptunnel eröffnen, der auf seiner Länge von knapp sieben Kilometern unter dem Magerøysund eine Tiefe von 212 Metern erreicht.

Der Regen hielt die folgenden Tage an. Alta im Regen, Narvik auch im Regen. Das einzige Gute daran war, das die Mücken nicht viel von Regen hielten. Wir fanden im Schutz der mächtigen Fjorde immer wieder abenteuerliche Zeltplätze. Manchmal in dichtgewachsenen Heidelbeerbüschen, manchmal nur wenige Meter neben feuchten Mooren und Moosen. Wir folgten den Fjorden Kilometerweit ins Innere, um später auf der anderen Seite wieder in Richtung Atlantik zu fahren. Manchem Fjord folgten wir nur im Schneckentempo, da dichte Nebelbänke immer wieder die Sicht versperrten. Dann folgten wieder lichte Momente und wir nahmen die Landschaft in ihrer majestätischen Schönheit auf. Wir gönnten uns in Bjerkvik einen kurzen Abstecher auf der E10 und hinaus auf die Inselgruppe der Lofoten. Die Landschaft wirkte rau, herzhaft und natürlich. Doch der Regen drückte uns weiterhin seinen Stempel auf und so drehten wir nach einigen imposanten Straßenbrücken wieder um. Narvik, die alte, dank des Golfstroms ganzjährig eisfreie Hafenstadt, erreichten wir an einem späten Nachmittag. Während des Zweiten Weltkrieges von der deutschen Wehrmacht besetzt, fand Anfang April 1940 die historische Schlacht um Narvik statt. Die Stadt, von der das strategisch wichtige Eisenerz nach Deutschland verschifft wurde, blieb bis Kriegsende unter deutscher Besatzung.

Wir wechselten ständig zwischen Tunneln, Brücken und weiteren Tunneln. Wir überholten einzelne Reisebusse, notierten die vielen einsamen Hütten an den vielen einsamen Seen und trafen auf keinen einzigen Troll. Selbst Elche sahen wir nur auf den zahlreichen Warnschildern am Wegesrand. Wenige Kilometer vor Mo i Rana überquerten wir wieder den nördlichen Polarkreis. Ab und an riss die Wolkendecke auf und ließ einige Sonnenstrahlen auf die norwegische Landschaft zu. Doch noch in der 1994er Olympiastadt Lillehammer holte uns der Regen wieder ein. Es wäre zum Verzweifeln gewesen, wenn nicht die selbst zubereiteten Pilze, etwas Brot und die prächtige Gegend gewesen wären. Erst die norwegische Hauptstadt machte unserem Elend ein Ende und empfing uns mit strahlendem Sonnenschein. Wir machten einen Abstecher zur alten Festung Akershus hinauf, schlenderten am Rathaus vorbei, in dem alljährlich der Friedensnobelpreis verliehen wird und genossen die Sonne am Yachthafen. In den folgenden Jahren traf ich während verschiedener Pressereisen und Reportagen auf Oslo und seine liebenswürdigen Nordmannen.

Eine dieser späteren Reisen führte mich von Stavanger kommend zur Heddaler Stabkirche, welche die größte ihrer Art in Norwegen ist. Das Gotteshaus wurde der Legende nach vom Troll Finn, der im Svintruberg unweit Heddals wohnte, in nur drei Tagen fertiggestellt. Etwas mehr als zwei Autostunden südlich von Oslo stieß ich auf die Felsritzungen von Tanum. Diese bronzezeitlichen Graffitis gehören mit ihrem großen Reichtum an unterschiedlichen Motiven zu den bedeutendsten Kulturerben.

Doch im Spätsommer 1995 wartete in Kristiansand eine Fähre, die uns ins dänische Hirtshals brachte. Einige Stunden später fuhren wir über die deutsche Grenze.  

Rentiere

Die - einzige - domestizierte Hirschart ist seit Jahrtausenden Nutztier und Nahrung in den Polargebieten.

E69 Richtung Norden

Das Nordkap liegt auf der norwegischen Insel Mageroya. Vor der Eröffnung des 6.875 Mtere langen Nordkaptunnels war die Überfahrt nur mit Fähre möglich.

Land der Tausend Seen

"Knoblauch hilft gegen die Mücken." versprach Seppo. Doch letztlich waren mir die Stiche lieber, als aus allen Knopflöchern nach der Knolle zu duften.

Finnischer Weltkrieg

Während des Zweiten Weltkrieges tobten heftige Kämpfe in den weiten finnischen Landen. Die mit der Unterstützung Nazideutschlands kämpfenden Finnen lieferten sich blutige Gefechte mit russischen Soldaten.

Mehr Bio geht nicht

Die frischen, lappländischen Pilzen gehören auf den Teller eines jeden Nordlandfahrers.

Zelten in Heidelbeeren

Skandinavien ist Natur pur. Wir mussten immer wieder der Versuchung widerstehen, alle Zeltplätze von den schier unzähligen blauen Beeren zu befreien.

Im Land der Wikinger

Erst die Attentate 2010 in Schweden und der Kreuzzug des Norwegers Anders Breivik im Sommer 2011 zerreißen die Idylle der skandinavischen Länder.