EGERLAND
FEDERWEIßER, VIERZEHN HELFER UND DAS ENDE EINES VERLORENEN VOLKSSTAMMES
Kaaden an der Eger

Vermutlich im 11.Jahrhundert gegründet, war die Stadt bis zum ersten Weltkrieg Garnison der K.u.K. Österreichisch-Ungarischen Armee. Am 4. März 1919 demonstrierten die Kaadener Deutschböhmen für das Selbstbestimmungsrecht und den Verbleib bei Österreich. Bei der Auseinandersetzung mit dem in der Stadt stationierten tschechischen Militär wurden 17 Personen getötet, 30 schwer und 80 leicht verwundet.

Liedpostkarte

Der Volkssänger Anton Günther gilt als Begründer der Liedpostkarte, die ab 1895 ungemein populär wurde. Ohne ihre weite Verbreitung wären viele Volks- und Weihnachtslieder der sächsischen und böhmischen Mittelgebirge vergessen.

"Vergaß dei Haamit net! Su singt jeds Vögele. Vergaß dei Haamit net! Su rauscht der Wald. Es heilt der Storm ons zu in kalter Winterschzeit: Vergaß dei Haamit net, dort is dei Halt!   Fest stieh zen Volk, der Haamit trei,   su wolln mir Arzgebirger sei!“ schrieb Anton Günther 1910. Dem Volksdichter aus dem böhmischen Gottegab, heute Bozi Dar, ging es Zeit seines Lebens um die raue Schönheit seiner Heimat, der Sprache des Erzgebirges, Traditionen und im weiteren Sinne um ein böhmisches Vermächtnis. Günther, der sich trotz seiner heimatbezogenen Texte wie „Deitsch on frei wolln mer sei!“, nicht von den Nationalsozialisten vereinnahmen ließ, schied im April 1937 aus dem Leben. Ihm blieb so der Odsun erspart, die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei 1945/46. Die Zahl der vertriebenen sudetendeutschen Familien betrug nahezu drei Millionen. Der durch die Benes-Dekrete legitimierten ethnischen Säuberung („Das deutsche Volk hat in diesem Krieg aufgehört, menschlich zu sein, menschlich erträglich zu sein, und erscheint uns nur noch als ein einziges großes menschliches Ungeheuer [...]. Wir haben gesagt, dass wir das deutsche Problem in der Republik völlig liquidieren [...] müssen.“) fielen dem Bundesarchiv zufolge etwa 60.000–70.000 Kinder, Frauen und Männer zum Opfer.

Jahrzehntelang hatten die Vertriebenen als „Polacken, Bolschewiken und Zigeuner“ unter der Kälte ihrer deutschen Mitbürger in den neuen Besatzungszonen zu leiden. Sie mussten den Preis der Niederlage zahlen, denn „Die Westdeutschen wollten mit dem Leid der Vertriebenen nicht behelligt werden.“, schrieb der Publizist Rüdiger Safranski. Der Osteuropa-Historiker Andreas Kossert notierte 2008 „Die jetzt in Flüchtlingstrecks und mit den Güterzügen in die Westzonen kamen, hatten früher nicht leidenschaftlicher „Heil Hitler!“ gerufen und sich nicht häufiger an den Verbrechen der Nazis beteiligt als der Durschnitt der weiter westlich lebenden Menschen. Trotzdem hatten die Vertriebenen kollektiv den höchsten Preis für den von Hitler entfesselten Krieg und die Verbrechen der Nazis zu bezahlen, egal, ob sie persönlich schuldig geworden waren oder nicht. Die Vertriebenen waren Hitlers letzte Opfer.“ Soviel vornweg.

Seit diesen Ereignissen standen sich zwei Gesellschaftssysteme gegenüber, Europa und die Welt mehrfach vor dem Ausbruch eines dritten, atomaren Krieges, gingen die sogenannten 68er auf die Barrikaden und wuchsen neue Generationen an Männern und Frauen fern der Heimat ihrer Vorfahren heran. Das Thema der Vertreibung, in den Ländern der Bundesrepublik über Jahrzehnte durch die Vertriebenenverbände am Leben gehalten, wurde in den Bezirken der DDR totgeschwiegen. Diejenigen, die es nach Mitteldeutschland verschlagen hatte, oder die, die in den Böhmischen Ländern verblieben waren, durften sich nicht zu ihren Wurzeln bekennen. Am Ende der 1990er Jahren waren die deutschen Ostgebiete in der Öffentlichkeit vergessen; Brauchtum und Sprache in die Altkleidersammlung gegeben und revanchistischer Mief lag wie ein bleierner Mantel über den aussterbenden Schlesier und Egerländer. Erst mit dem Fall des Eisernen Vorhanges setzte erinnerungspolitisches Tauwetter ein.

Doch seit den 1989er Wendejahren war eine weitere Generation herangewachsen, welche als Facebook-Generation und Globalplayer weltweit immer auf Achse und erreichbar war und deren Interesse mehr auf die eigene, unsichere Zukunft denn auf die der verlorenen Vergangenheit der Urgroßeltern gerichtet war. Für sie war es maximal ein „cooles“ Event zu wissen, wo ihre Altvorderen herstammten und so absolvierten sie ziemlich relaxt ihr freiwilliges soziales Jahr im Baltikum oder betreuten eine Jugendherberge in Neuseeland. Das „mit den Wurzeln“ überließen die meisten von ihnen getrost den Alten, die ihre Kinder und Enkel nicht für die familiären Wurzeln jenseits von Ernst Mosch und Trachtenmode zu begeistern vermochten. Nur wenige hinterfragten kritisch und versuchten, frei jeglicher politischer oder revanchistischer Vereinnahmung ein objektives Bild zu erhalten.

Ich folgte im September einer persönlichen Einladung Dietmar Hüblers zum Weinfest an die Eger. Der Ortsbetreuer wollte die „letzte Möglichkeit unsere Geschichte der Nachwelt zu erhalten“ nutzen und das Egertal Heimatfest 2012 vorbereiten. Während nun der deutsche Papst Benedikt im thüringischen Eichsfeld versuchte, die ostdeutsche Jugend wieder für die katholische Kirche zu begeistern, sollte das „gemeinsame Treffen mit den Nachkommen der Erlebnisgeneration“ an der Eger ins Wasser fallen. Leider blieb ich der einzige der so "wichtigen Nachkommengeneration", der an diesem Wochenende die 800 Kilometer investierte hatte und einfach nur neugierig war, wie das sudetendeutsche Erbe in den Zeiten von Twitter und iPod weitervererbt werden sollte. Ich kannte, im Gegensatz zu anderen, die Gegend meiner Väter bereits zu den Zeiten, als es noch kritisch war, sich dazu zu äußern. Die jungen Sachsen Alexander Lohse und Thomas L. Koppe, die sich seit einigen Jahren für die Heimat ihrer Großeltern interessieren und versuchen, die deutschen Wurzeln des Egertals wieder hervorzubringen, blieben dem Treffen aus persönlichen Gründen fern und Dietmar Hübler ignorierte mich schlichtweg die folgenden Tage.

Am sonnendurchfluteten Samstagnachmittag gedachte ein kleiner Haufen alter Frauen und Männer mit der stellvertretenden Bürgermeisterin von Kaaden Frau Zörkerova und Pfarrer Cermak an die 1919 auf dem Kaadener Marktplatz hingerichteten Deutschböhmen und die 1945/46 vertriebenen Familien. Der Vortrag des im westdeutschen Rechtsstaat aufgewachsenen Heimatkreisbetreuers Helmut Seemann erinnerte an die steten Monologe kommunistischer Ideologen. Die Szenerie wirkte bizarr und während ein Volksstamm sichtbar in den letzten Atemzügen lag, luden sich die drei Vorstandsmitglieder selbst zum Gespräch ins Schützenhaus ein. Der Rest der aus der Republik angereisten sogenannten Aufbaugeneration schaute irritiert und später entrüstet drein. Zwanzig Minuten auf dem Kaadener Friedhof zeigten das tiefe innere Zerwürfnis der „Alten“. „Wenn heute jemand von München nach Hamburg umzieht, ist das auch nicht von Belang.“, kommentierte einer der Teilnehmer pragmatisch. Augenscheinlich war die vertriebene „Erlebnisgeneration“ im „Facebook“-Zeitalter angekommen und Erinnerungsveranstaltungen an fast 100jährige Ereignisse nur noch für die Spesenabrechnung gut. Als am folgenden Morgen Seemann von einer ebenso enttäuschten wie wütenden Teilnehmerin zur Rede gestellt wurde, fehlten dem Heimatkreisbetreuer die Worte. Frau Herta Lenz (Name v.d.R. geändert) geht es wie vielen anderen Teilnehmern. Ehrliches Kulturerbe und offene Begegnung treffen für sie an der Basis seit einigen Jahren auf Starrsinn und Gleichgültigkeit.

Da hilft es auch nicht viel, dass der Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe Bernd Posselt auf dem Sudetendeutschen Tag 2011 in Augsburg betonte, das „wir – mit vielen Schwierigkeiten und Rückschlägen befrachtet, aber doch erfolgreich – dabei (sind), die alten Gräben zu überwinden. ... Unser Ziel bleibt es, das fortdauernde Unrecht und seine Folgen soweit wie möglich zu beseitigen und eine fruchtbare Partnerschaft zwischen der deutschen und der tschechischen Sprachgemeinschaft, die einstmals das Reich der Heiligen Wenzelskrone bildeten, in modernem europäischen Geist wiederherzustellen.“ Hamburg oder München, Kaaden oder San Franzisco. Volksmusik, i-phone und Traditionen. Das 20.Jahrhundert schrieb die schwierigsten Kapitel im Zusammenleben der Völker und Volksgruppen im Herzen Europas, deren Geschichtsdarstellung argwöhnisch von allen Seiten beobachtet wird.

Das Weinfest im ehemaligen Franziskanerkloster entschädigte für die anhaltende Enttäuschung. Der Federweißer war typischerweise gewöhnungsbedürftig, aber die Stimmung unter den vorwiegend tschechischen Familien entspannt. Einige Trachtengruppen spielten auf dem weitläufigen Klostergelände böhmische Lieder oder tanzten historische Reigen.

Thomas, ein Archivar aus dem sächsischen Annaberg, führte uns durch die Räume des alten Klosters, erläuterte Kreuzgang und Altar, die Schwierigkeiten und Umfänge der langjährigen Renovierungsarbeiten und betonte den historischen Bezug zwischen Sachsen und Böhmen. Die spätgotische Klosterkirche der Vierzehn heiligen Nothelfer war von Anfang an Pilgerort. Einzig in seiner Art in Böhmen ist das Grabmal des Johannes von Lobkowitz und Hassenstein mit einem Skelettenrelief von 1517.  Der junge Sachse, der seit Jahren auf der Suche nach den Spuren der deutschen Geschichte ist und dabei eng mit den Tschechen zusammenarbeitet, betonte, dass „sie schon nationaler als die Deutschen sind, jedoch muss ich meinen Tschechen zugute halten, dass sie den Austausch wollen. Sie wollen wirklich Versöhnung. Und sie waren so froh darüber, als endlich die alten, lange verschollenen (deutschen, d.R.) Unterlagen aus der Kaadener Geschichte wiedergefunden wurden. Doch die Tschechen wollen nicht auf Anweisung von oben, sondern aus eigenem Entschluss heraus.“ Das in den Jahren des Kommunismus die Kirchen nicht wie teils in der DDR direkt zerstört wurden, sondern „nur“ dem Verfall preisgegeben wurden, lag daran, dass die Tschechen ein lockereres Verhältnis gegenüber dem Glauben haben als Deutsche, war sich Thomas sicher. Dagegen bauten sie zwischen zwei in Sichtweite liegenden Gotteshäusern einige Plattenbauten, so dass die Sicht eingeschränkt wurde. Mich erinnerte das eher an den Soldaten Schwejk, dessen geistiger Vater der Tscheche Jaroslav Hasek war.

Heute überwiegen vorrangig die Ängste vor ständigen Wirtschaftskatastrophen und der Verlust untergehender Traditionen wird zur Randnotiz. Daher ist es umso wichtiger, bereits an der Basis, jenseits eingefahrener Freizeitpolitiker, einen offenen Dialog zwischen Generationen und Völkern zu finden. Im Frühjahr 2012 soll im nahen Pürstein das traditionelle Egerlandfestival wieder aufgelebt werden und die Tage neben sächsischer Blasmusik, historischen Wanderungen und Kaffee  und Kuchen „zur Begegnung und zum Dialog mit unseren Nachkommen“ genutzt werden, wie Dietmar Hübler hofft. Es bleibt zu hoffen, dass es den Organisatoren nach dem Kaadener Eklat besser gelingt, die inzwischen erwachsenen Kinder und Enkelkinder für die eigenen Wurzeln zu interessieren. Andernfalls bleiben Lippenbekenntnisse und nicht mehr als Erinnerungen an Franzbranntwein und Karlsbader Obladen.

Egerland

Typisch für diesen Teil des böhmischen Erzgebirges sind die zahlreichen Vulkanhügel entlang der Eger.

Böhmische Trauer

Der im 20.Jahrhundert eskalierende Nationalitätenkonflikt gipfelte nach dem ersten Weltkrieg in zahllosen Hinrichtungen und den späteren Vertreibungen der deutschen Bevölkerung.

Deutsches Erbe

Über Jahrhunderte prägten deutsche Siedler und Herrscher die Landschaft an der Eger. Deutsche und Tschechen lebten in den Siedlungsgebiten nebeneinander, bevor sich der Nationalismus ausbreitete.

Kloster Kaaden

Das Franziskanerkloster mit der Kirche der Vierzehn Helfer stand in den kommunistischen Jahren leer und diente nur Tauben und Ratten als Herberge. Durch die Stadt Kaaden wird der historische Baukomplex schrittweise renoviert.

Keilberg (Klinovec)

Der mit 1.244 Meter höchste Berg des Erzgebirges gehört zu den beliebten Ausflugszielen. Der 1883 errichtete "Kaiser-Franz-Joseph-Turm" ist heute wie das Berghotel stark verfallen.