BELGIEN
DER LÖWE VON FLANDERN, MILLENIUM UND BRÜGGE, LE MINISTER UND GENT
Gent bei Nacht

Die stolze flandrische Stadt, de fiere stad, ist ein Kleinod Belgiens. Von ihrer gut erhaltenen  Architektur und den zahlreichen Studenten geprägt, bietet die Stadt ein besonderes Ambiente zwischen mittelalterlichem Flair und quirliger Moderne.

Blick auf Graslei und Korenlei im Stadtzentrum

Presselandschaft

Die am meist gekaufte Tageszeitung "Het Laatste Nieuws" erschien seit dem Sommer 1888. In Belgien werden neben niederländischen und französischsprachigen Blättern auch deutschsprachige Medien verlegt.

Lieven war der erste Belgier, den ich persönlich kennen lernte. Er war einige Jahre nach der deutschen Wende in den Osten gekommen; neugierig auf die Menschen, ihre Mentalität und das was so neu war für die Mitglieder der alten EU. Wir hatten ähnliche Interessen, waren beide aufgeschlossen für neue Eindrücke und blieben auch später in Kontakt. Ich war neugierig auf Belgien, die Flamen und ihr Kirschbier und nutzte so oft es ging die wenigen Gelegenheiten, um Land und Leute kennenzulernen.

Lievens Familie war mir von Anfang an sympathisch. Ich versuchte immer wieder meine belgischen Sprachkenntnisse zu erweitern, ohne das es mir wirklich gelingen sollte. Ich lernte Lievens Bruder kennen, dessen Frau und die vier Kinder. Das geräumige Haus lag in einem herrlichen Chaos, die Kinder zeigten keine Scheu und fanden den ostdeutschen Besuch äußerst spannend und zeigten mir ihr ganzen Können auf den verschiedensten Musikinstrumenten. Ich stieß mit Lievens Bruder auf die deutsch-belgische Freundschaft an und genoss die raue und offene Art der Belgier. In den folgenden Jahren kam ich immer wieder gern zurück.

Seit seiner Unabhängigkeit 1830 ist das Königreich Belgien eine parlamentarische Monarchie. Die alte Provinz Belgica wurde im Laufe seiner Geschichte, die eng mit der der heutigen Niederlande verwoben ist, durch viele und fremde Herrschaften regiert. Während nach dem Zerfall des Römischen Reiches die Franken die politische Macht in Belgien und Europa schufen, folgten später Habsburger, Spanier und Franzosen. Im späten Mittelalter siedelten zahlreiche Flamen in den neu erschlossenen Gebiete östlich der Elbe, im südwestlichen Brandenburg und östlichen Sachsen-Anhalt, wovon heute der Name der Region Fläming zeugt. Das ständige Hin und Her, vor allem aber der heftige Konflikt zwischen den niederländisch sprechenden Flamen im Norden und den im Süden des Landes lebenden Wallonen, die sich näher an Frankreich sehen, hinterließen heftige Spuren. Noch heute prägt der Konflikt die gegensätzlichen Interessen in Belgiens Politik und Wirtschaft.

Lieven erklärte mir einmal, dass bis vor einigen Jahren die Wirtschaft nur im südlichen Wallonien den Ton angegeben hatte, während die Flamen nur schlechtbezahlte Jobs ergatterten. Mich erinnerte das an den steten, von Medien und Politik gleichermaßen am Schwelen gehaltenen Ost-West-Konflikt Deutschlands.

Inzwischen hat sich die wirtschaftliche Situation Belgiens jedoch geändert.  Während sich die ehemals von Kohle- und Stahlindustrie geprägten wallonischen Regionen in einer Rezessionsphase befinden, wird das belgische Bruttonationaleinkommen zu zwei Dritteln in Flandern erwirtschaftet, welches einen Solidarbeitrag, der in der Wallonie vor allem zur Finanzierung von Sozialleistungen verwendet wird, zahlt. Diese Zahlungen sind jedoch in der flämischen Region ebenso politisch umstritten wie hierzulande der Länderfinanzausgleich für die ost- und norddeutschen Bundesländer. Die Parallelen lagen auf der Hand. Während beispielsweise Bayern 36 Jahre lang bis 1986 von den jährlichen Zuschüssen profitierte und seine von Landwirtschaft und Tourismus geprägte Region ins 20.Jahrhundert heben konnte, schelten heute bayrische Nationalisten über das Finanzmodell, welches zugegebenermaßen ein Update notwendig hat.

In der Politik Belgiens gab es nur wenige Kompromisse zwischen Wallonen und Flamen. Den Konflikt verschärfte nicht nur die lange Geschichte des Königreiches, welches sich gedrungenermaßen zu einer föderalistischen Lösung genötigt sah, sondern auch die Zweisprachigkeit, welche die historischen Unterschiede täglich manifestiert. Politische Debatten erhalten meist schnell einen sprachpolitischen Aspekt und polarisieren das Land. Während sich Europa nun als Staatengemeinschaft einheitlich gab und ständig auf einen einheitlichen Konsens aus war, eskalierte die Situation in den Folgejahren immer mehr. Belgien, Gründungsmitglied der Europäischen Union, deren wichtigsten Institutionen sich in seiner Hauptstadt Brüssel befinden, steht seit Jahren vor der eigenen Zerreißprobe. In einer Meinungsumfrage sprachen sich 2007 nur noch 49,6 Prozent der Flamen für den Erhalt des belgischen Staates aus. Wallonische und flämische Politiker konzentrierten sich auf ihre eigene Sprachgruppe und letztlich gipfelten alle Streitereien 2010 in einer Staatskrise, in deren Verlauf die Auflösung Belgiens in die zwei Nationalstaaten Flandern und Wallonie vorgeschlagen wurde.

Ich konzentrierte meine Reisen in erster Linie auf Flandern; erkundete Gent, die Krachten von Brügge und machte mit Lievens Frau Elke einen Abstecher nach Brüssel.

Gent ist eine wunderschöne, von schmalen und breiten Kanälen durchzogene Stadt. Die ehemalige Textilmetropole hat sich ihr mittelalterliches Flair behalten. Das die eng bebaute, verwinkelte Innenstadt mit ihren alten Pflasterstraßen trotzdem jung geblieben wirkt, hängt mit der lebendigen Studentenszene, den zahlreichen Cafés, hippen Lokalen und schrulligen Pinten zusammen. In einer von diesen mit Kerzenständern, nicht mehr nutzbaren Fahrradspeichen, leeren Flaschen und alten Büchern, Puppen und zerschlissenen Lampenschirmen zugerümpelten Kneipe kam ich zum ersten mal mit Duvel, einem Starkbier, das 1918 zur Feier des Ende des Ersten Weltkrieges zum ersten Mal gebraut wurde und seinen Namen dem hohen Alkoholgehalt von 8,5 Prozent verdankt, in Berührung.

Belgisches Bier ist, neben der bekannten Schokolade, eine der kulinarischen Spezialitäten des Landes. Berühmt sind vor allem die verschiedenen Abteibiere wie Leffe oder Orval. Das in belgischen Klöstern hergestellte obergärige Bier ist Eigentum der jeweiligen Abteien, die sich auf etwa 70 verschiedene Biermarken summieren. Einige dieser Namen entstammen der jeweiligen Gemeinde oder sind Heiligtümern und Kirchen gewidmet. Besonders begehrt sind die Trappistenbiere, die ausschließlich von den Mönchen selbst gebraut werden. Bei einem meiner Aufenthalte besichtigten wir das Kloster Affligem in der Nähe von Aalst. Lieven überzeugte einen der Benediktinerbrüder von der langen Anreise des deutschen Besuchers und wir bekamen eine kleine Sonderführung durch das Kloster, welches seit 1574 sein Bier selber braut. Die belgischen Spezialbiere wie das Kirschbier Kriek, das nach Himbeeren schmeckenden Framboise oder das Hoegaarden sind zwar interessant, bleiben jedoch sprichwörtliche Geschmackssache. Es sollen etwa eintausend verschiedene belgische Biersorten existieren.

Brüssel blieb mir als quirlige Großstadt im Gedächtnis. Die breiten Straßen, Flanier- und Shoppingmeilen, die zahlreichen Touristen, die unbedingt den kleinen Manneken Pis sehen wollten und das geschäftige Treiben einer riesigen Beamtenstadt empfand ich als nett jedoch nicht besonders lohnenswert. Elke war stets sorgsam darauf bedacht, dass wir die Autofenster oben und das Auto verschlossen hielten, als wir durch die Straßen fuhren. „Es wurden schon etliche Autofahrer an roten Ampeln überfallen. Die Türen wurden aufgerissen und die Insassen bedroht.“ Das Zentrum der Europäischen Gemeinschaft erschien mir ziemlich düster und nicht weiter verlockend. Wir machten noch einen Abstecher zum Atomium, welches zur ersten Weltausstellung nach dem Zweiten Weltkrieg 1958 die friedliche Nutzung und verheißungsvolle Zukunft der Atomenergie propagierte und 2004 restauriert werden sollte.

Der Tourismus spielt heute in Belgien eine bedeutende Rolle. Während die belgische Nordseeküste mit zahlreichen Badeorten lockt, ziehen die vielen alten Kriegsdenkmäler und –orte des Ersten Weltkrieges in Westflandern besonders die skurrilen Briten an. An der Front des stark umkämpften Ypern wurde im April 1915 zum ersten Mal von deutscher Seite Chlorgas eingesetzt. In Frankreich wird Senfgas auch als „Yperit“ bezeichnet. Die alte Festung, die Schützengräben und vielen Soldatenfriedhöfe sind heute noch zu besichtigen.

Lieven und ich feierten gemeinsam mit seinen Freundinnen in das junge Milleniumsjahr 2000 auf dem nebeldurchzogenen Marktplatz von Brügge hinein. Zum letzten Mal begegnete mir die Stadt 2008 im Kinofilm „Brügge sehen und sterben“ mit Colin Farrell und Brendan Gleeson wieder.

Kneipenszene

Die belgischen Kneipen sind urig, einige auch ziemlich gewöhnungsbedürftig.

Manneken Pis, Brüssel

Der kleine Mann wird entsprechend der Jahreszeit oder zu besonderen Anlässen eingekleidet.

Atomium Brüssel

Zur Weltausstellung 1958 wurde das Konstrukt errichtet. 2004 wurde das von André Waterkeyn entworfene Gebäude restauriert.

Festung Gravensteen, Gent

Die frühere Wikingersiedlung entwickelte sich im Mittelalter durch seinen Tuchhandel zu einer der größten Städte Europas.

Belgische Schokolade

Weltberühmt ist die Schokolade, die nach strengen Qualitätsregeln hergestellt wird. Doch nicht nur die bekannten Pralinen werden zum Kauf angeboten.